Fragen zum Islam sind in der politischen Debatte und im europäischen Alltag gegenwärtiger und drängender denn je. Zwar erfreut sich die deutsche Islamwissenschaft mitsamt ihren Untergliederungen in Arabistik, Turkologie, Iranistik etc. unter dem politischen Einfluss der islamischen Migration nach Europa einer zunehmenden Bedeutung durch die Gewährung immenser Drittmittel; sie ist jedoch seit ihren Anfängen in ideologischen Sichtweisen gefangen, aus denen sie sich bis heute nicht befreit hat. Die deutsche Islamwissenschaft ging vom Stereotyp des homo islamicus aus, einem starren kulturellen Image des Anderen, des Fremden, der in den rassistischen Anfängen unter Carl Heinrich Becker als unterlegener Untermensch gezeichnet und im gegenwärtigen anderen Extrem als ausschließlich positiv und in einer sogenannten Kultur der Ambiguität lebend betrachtet wird. Beide Sichtweisen, Verteufelung wie Verherrlichung des vermeintlichen homo islamicus, sind Schöpfungen der deutschen Islamwissenschaft, die mehr mit den deutschen Wissenschaftlern als mit ihrem Forschungsgegenstand zu tun haben und in der Folge wenig zu einem wirklichen Verständnis der islamischen Zivilisation beitragen. Ein solches erfordert neben einer ideologiefreien Herangehensweise insbesondere auch die Betrachtung der islamischen Geschichte im Rahmen einer historischen Sozialwissenschaft. Islamforschung muss mehr sein als eine Auseinandersetzung mit Theologie und Philologie, und kolonialistische Sichtweisen auf Muslime – gleich, ob negativ oder positiv – sind weder wissenschaftlich noch sinnvoll. Tibi fordert daher nicht weniger als einen Paradigmenwechsel in der Auseinandersetzung mit der islamischen Zivilisation: Zum einen eine vollständige Entkolonialisierung, zum anderen methodisch und inhaltlich das Anwenden historisch-sozialwissenschaftlicher und religionskritischer Analysen, die nicht den Anderen unzulässig auf sein ewigwährendes Anderssein festlegen, sondern Wandel miteinbeziehen. Tibis augenöffnende Analyse ist aktueller denn je und taucht viele Ereignisse des Tagesgeschehens in ein ganz anderes Licht. So betrachtet er in einem ausführlichen Schlusskapitel auch die gegenwärtigen Migrationsbewegungen aus dem islamischen Raum in einem welthistorischen Kontext.
Bassam Tibi
Bassam Tibi, Jahrgang 1944, wuchs in Damaskus auf und kam 1962 nach Deutschland, wo er Sozialwissenschaft, Philosophie und Geschichte sowie Islamwissenschaft studierte – unter anderem bei Max Horkheimer und Theodor W. Adorno sowie Iring Fetscher. Mit 28 Jahren wurde er zum Professor für Internationale Beziehungen in Göttingen berufen. Tibi lehrte und forschte auf fünf Kontinenten, u.a. in den USA an den Universitäten Harvard, Princeton, Cornell, Berkeley und Yale sowie in Dakar, Yaoundé, Khartum, Jakarta, Ankara, St. Gallen sowie Singapur und zuletzt 2016 an der American University of Cairo.
1995 wurde ihm von Roman Herzog das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse für seine Förderung eines besseren Verständnisses des Islam verliehen. 2003 erhielt Bassam Tibi, zusammen mit dem jüdischen Zeithistoriker Michael Wolffsohn, in der Aula der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich den Schweizer Preis der Stiftung für Abendländische Besinnung, in Anerkennung der Leistung beider für europäische Werte. 2016 wurde er in den Senat der von Helmut Schmidt ins Leben gerufenen Deutschen Nationalstiftung gewählt.
2019 wurde Tibi vom Vordenker-Forum, das von den Partnern Frankfurter Allgemeine Zeitung, Plansecur und Goethe-Universität Frankfurt getragen wird, in Würdigung für seinen Einsatz um ein offenes und integrationsstarkes Europa als Vordenker des Jahres ausgezeichnet.
-- Im Mai 1994 gründete Bassam Tibi mit dem Rabbiner Albert Friedlander in der Westminster-Synagoge in London den jüdisch-islamischen Dialog.
-- Von 2007 bis 2010 (mit Unterbrechungen in Yale und Cornell) war Tibi als erster Muslim am Forschungsinstitut des Holocaust Museum in Washington DC als The Resnick Senior Fellow for the Study of Antisemitism CAHS / Center for Advanced Holocaust Studies tätig.
-- In den Jahren 2018 und 2019 (Juli/August) hielt Tibi am St. John’s College der Oxford University Vorlesungen über den neuen Antisemitismus.
-- In der vorliegenden Autobiografie stellt Tibi seine Lebensgeschichte als eine Weltreise zwischen den Kulturen vor. Hierbei wird deutlich, dass Rassismus und Antisemitismus einen Rückfall in die Barbarei bedeuten. Diese Erkenntnis war auch zentrales Element von Tibis Gastrede, die er in Wien beim jährlichen Gedenktag 2019 gegen Gewalt und Rassismus vor dem österreichischen Parlament hielt.
-- Im September 2020 wurde Tibi von Bundespräsident Van der Bellen mit dem Österreichischen Ehrenkreuz 1. Klasse ausgezeichnet.
Tibi veröffentlichte im Zeitraum von 1969 bis 2021 dreiunddreißig Bücher in deutscher und von 1980 bis 2014 zwölf Bücher in englischer Sprache.
Seit 2016 erscheint Tibis Werk in neuen Ausgaben bei ibidem.
Delivery time
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Delivery time 2-3 working days.
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Number of Pages |
312
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Language |
German
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Format |
21,0 cm x 14,8 cm
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Type |
Hardcover
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Publication date |
01.05.2017
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ISBN
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978-3-8382-1093-3
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Weight
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430 g
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